Neoformalismus und Animationsfilm

Grundannahmen des Neoformalismus

Zwei moderne Vertreter der formalistischen Strömung sind David Bordwell und Kristin Thompson, die dem Neoformalismus zuzuordnen sind. In ihrem Werk „Film Art – An Introduction“ (2008) beschreiben sie ein Filmanalysemodell, welches in dieser Arbeit Verwendung finden soll. Zunächst möchte ich jedoch die Grundprämissen des Neoformalismus und dessen Grundprämissen kurz darstellen und hinsichtlich der strukturalen Medienbildung reflektieren.

Inhalt und Form

Die Grundannahme der neoformalistischen Filmtheorie ist die Trennung zwischen Sujet (Plot) und Fabel (Story), welche auf den russischen Formalismus zurückgeht: 

„Eines der wertvollsten methodologischen Verfahren, das von den russischen Formalisten zur Analyse von Erzählungen erdacht wurde, ist die Unterscheidung zwischen Sujet und Fabel. Das Sujet ist im wesentlichen die Kette aller kausal wirksamen Ereignisse, wie wir sie im Film selbst zu sehen und zu hören bekommen. […] Das Verständnis dieser Sujet-Ereignisse erfordert häufig ihre geistige Umordnung in eine chronologische Reihenfolge. Selbst wenn ein Film die Ereignisse einfach in ihrer 1-2-3-Folge präsentiert, müssen wir deren kausale Verbindungen noch aktiv begreifen. Diese geistige Anordnung von chronologisch und kausal verbundenem Material ist die Fabel“ (Thompson 1995, 55).

Mit Blick auf dieses Zitat wird deutlich, dass der Neoformalismus keinesfalls nur die Form beschreibt, sondern vielmehr, wie durch die formalen Gestaltungsmittel des Films Narrationen bzw. Bedeutungszusammenhänge erzeugt werden. In diesem Sinne nimmt der Neoformalismus die Warnung, welche Rudolf Arnheim in seiner Monographie „Film als Kunst“ hinsichtlich der Aspekte „Inhalt und Form“ formuliert, ernst:

„Sagt man: Film ist nur Inhalt, denn er tut nichts, als die Wirklichkeit wiederzugeben, so kommt man sogleich zu der Folgerung: Film ist nicht Kunst, denn er ist nicht Form! Und umgekehrt führt die Unterscheidung von Form und Inhalt sehr leicht zu einer Unterschätzung, Geringschätzung dessen, was man ‚nur Form‘ oder ‚bloße Technik‘ nennt. In dem Sinne, daß die Form etwas Äußerliches, Handwerkliches sei, um das man sich als Publikum nicht kümmern brauche – eine Werkstattangelegenheit des Herstellers“ (Arnheim 2002, 135).

Der Plot beschreibt daher alles Seh- und Hörbare im Film (d.h. die Form), während Story die Rekonstruktion dieser Elemente beim Rezipienten meint (Bordwell/Thompson 2008, 76). Dieses Grundprinzip impliziert zwei weitere Punkte, die ich im Folgenden ausführen möchte: zum einen den im konstruktivistischen Sinne gedachten aktiven Zuschauer und zum anderen jene grundlegenden Verfahren, welche die Rekonstruktion der Story ermöglichen.

Der Aktive Zuschauer

Um aus einem Sujet eine Fabula zu machen, brauche es nach Kristina Thompson einen aktiv gedachten Zuschauer, welcher hinsichtlich der Cues im Film kontinuierlich Hypothesen bildet, aus denen sich letztlich die subjektive Interpretation des Gesehenen konstruiert (vgl. Thompson 1995, 49). In diesem Sinne versteht Thompson die Narration als Prozess:

„Der Prozeß, durch den das Sujet in einer bestimmten Reihenfolge Fabelinformationen präsentiert oder zurückhält, ist die Narration. Die Narration leitet den Zuschauer demzufolge beim Sehen eines Films stets dazu an, hinsichtlich der Ereignisse der Fabel Hypothesen zu bilden“ (Thompson 1995, 58).

Damit dieser Prozess gelingt, ist ein Vorwissen, welches Thompson „Hintergründe“ nennt, notwendig. Hierbei unterscheidet sie drei grundlegende Arten. Zum einen das Alltagswissen, um grundsätzliche referentielle Bedeutungen erfassen zu können. Zudem ist auch ein Wissen über andere Kunstwerke notwendig, um beispielsweise Handlungslinien folgen zu können. Der dritte Hintergrund ist das Wissen um die Funktionen einzelner Formate (vgl. ebd., 40f). Durch diese individuell verschiedenen Hintergründe, so argumentiert Thompson, entstünde hinsichtlich der Lesarten eines Films keinesfalls eine Beliebigkeit der Interpretationen :

„Der Begriff des Hintergrunds kann nicht als Rechtfertigung für die Beliebigkeit analytischer Vorlieben ins Feld geführt werden. Die gegenwärtige Mode des "unendlichen Spiels der Lesarten" (die Folge eines ahistorischen Analyseansatzes) kann nicht damit gerechtfertigt werden, daß ein breites Spektrum verschiedenster Hintergründe für ein und denselben Film herangezogen wird. Da zu jedem spezifischen historischen Moment bloß eine endliche Anzahl von LektüreKonventionen [sic!] existiert, erlauben sie zwar eine Reihe verschiedener ‚Lesarten‘, aber eben nicht unendlich viele“ (Thompson 1995, 43).

Zentrale Verfahren

Damit der Zuschauer hinsichtlich der Gestaltung eines Films eine Story rekonstruieren kann, unterscheidet Thompson zwei zentrale Verfahren: die Motivation und die Verfremdung (ostranenie). Die Aufgabe der Motivation bestünde darin, dass sie den Zuschauer fesselt, so dass dieser dem Hauptanliegen der Kunst, nämlich ästhetisch zu sein, nachkommen könne. Auf der anderen Seite wird durch die Verfremdung, die durch erschwerte Formen oder Retardationen realisiert werden kann, das Erlebnis des Rezipierens verlängert bzw. aufgeraut. Somit wird der Zuschauer dazu bewegt, sich mit dem Gesehenen auseinanderzusetzen (vgl. Thompson 1995, 53). Durch die Wechselwirkung zwischen Motivation und Verfremdung, werden nach Thompson sogenannte Cues erzeugt, welche den Zuschauer in eine bestimmte Richtung weisen können:

„Aus diesem Grund kann man sagen, daß ein Werk die Wahrnehmung und Verarbeitung in eine bestimmte Richtung weist [to cue]. Diese cues herauszuarbeiten und auf ihrer Basis zu entscheiden, welche "Antworten" des Zuschauers seinem Hintergrundwissen entsprechend zu erwarten wären, wird zur Aufgabe der Analyse“ (Thompson 1995, 49; Herv. i. Orig.).

In diesem Sinne möchte ich im Folgenden die neoformalistische Filmanalyse von David Bordwell und Kristina Thompson vorstellen, welche in einer Arbeit die zentrale Analysemethode sein wird.

Picture
Startseite
Picture
nach oben
Picture
Neoformalistische Filmanalyse